Tage Alter Musik – Programmheft 2020

69 T age a LTeR M uSIK R egenSBuRg Konzert 14 17 CDs aufgenommen, u. a. bei analekta, aTMa, World Village, Buda Musique und MaCase. Das ensemble wird vom Conseil des arts et des Lettres du Quebec, vom Canada Council for the arts und dem Conseil des arts de Montréal unterstützt. Marco beasley stammt aus der nähe von nea- pel. In seinem Studium in Bologna vertiefte er vor allem die beiden Pfeiler der musikalischen Interpretation der späten Renaissance: recitar cantando sowie die geistliche und weltliche Polyphonie. Damit begann für ihn eine Konzert- karriere, die ihn zu einigen der angesehensten Konzertsälen der Welt brachte, vom Mozarteum in Salzburg zum Concertgebouw amsterdam und von der accademia di Santa Cecilia in Rom zum Lincoln Center in new York. Begeisternde Konzerterlebnisse entstanden durch Marco Beasleys tiefes Verständnis der Vokalinterpretation. Seine Sorge um beste Ver- ständlichkeit der gesungenen Texte hat ihm eine immer größere anhängerschaft im Publikum beschert. 2009 wurde er von der niederländi- schen Vereinigung der Theater und Konzertsäle (VSCD) zum besten Künstler des Jahres gewählt. Marco Beasley’s Diskographie ist umfangreich und sehr vielfältig. Die meisten aufnahmen sind zusammen mit dem ensemble accordone entstanden, das er zusammen mit guido Morini und Stefano Rocco 1984 gründete. 2014 entschloss er sich, das ensemble zu verlassen, um andere Wege zu beschreiten. 2013 erschien die CD Il Racconto di Mezzanotte, in der das Singen dem Stil der narration immer näher kommt, eine intime und kontemplative erzählung nur mit Solo-Stimme. Diese CD und die aufnahme von Le Strade del Cuore (2016) sind im eigenverlag M. Beasleys erschienen und nur bei seinen Konzerten erhältlich. Marco Beasley und Constantinople arbeiten seit 2017 zusammen. Zwei Konzertprogramme und eine gemeinsame CD-aufnahme des Programms „Dalla porta d’oriente“ sind bisher daraus hervorgegangen. Marco Beasley gastierte zwei Mal bei den Tagen alter Musik: 1989 mit dem ensemble Sator Musicae und 2008 mit accordone. zum Programm: Dalla Porta d’oriente – das tor des ostens 1675 kehrte antoine galland, orientalist, Reisender und Übersetzer der “geschichten aus Tausendundeiner nacht” nach einer langen und aufre- genden Reise durch den mittleren osten nach Paris zurück. einer der vie- len Schätze, die er von dort mitbrachte, war das mysteriöse und unbezahl- bare Manuskript aus Konstantinopel, das sich heute in der Sammlung der Bibliothèque national de France unter dem eintrag „Ms Pbn Turc 292“ befindet. Dieser Mecmua, zusammengestellt von ali ufki, Musiker am Hofe von Konstantinopel, ist ebenso faszinierend und vielfältig wie die Stadt selbst im 17. Jahrhundert und dient als Inspiration für das vorlie- gende Programm. ali ufki wurde unter demnamen Wojciech Bobowski als Sohn einer ade- ligen Familie in Lemberg geboren, das damals zu Polen gehörte. als junger Mann wurde Bobowski von Krimtartaren gefangen genommen und als Sklave nach Konstantinopel gebracht. Der Königshof kaufte ihn und er wurde Mitglied des ensembles des Serails, in dem er sang und Santur spielte. er konvertierte zum Islam und nahm den namen ali ufki an oder auch ufuki „der von jenseits des Horizontes stammt“, eine poetische umschreibung seiner fremden Wurzeln. ausgestattet mit außergewöhnlichem Talent und großer neugier, verkörperte ali ufki beide Kulturen – die osmanische wie auch die euro- päische – und er machte dies sich und anderen zu nutze: Beständig wechselte er zwischen bei- den Welten und half anderen dabei dasselbe zu tun. nachdem er seine Freiheit erlangt hatte, arbeitete ali ufki als Dolmetscher für die osma- nische Staatskanzlei und als Übersetzer, Lehrer und kultureller Vermittler für europäische Rei- sende und Diplomaten, denen er einzigartige einblicke in die türkische Kultur bot. es heißt, er habe achtzehn Sprachen gesprochen. Zudem war er ein überaus aktiver Schriftsteller. Seine Übersetzung der Bibel ins Türkische und seine ungemein beliebte abhandlung, in der er den Islam für europäische Leser erklärt, sind einige Beispiele für seine Fähigkeit, zwischen den bei- den Kulturen und Religionen zu vermitteln. als ali ufki im Topkapi Palast ankam, wurde er Teil einer kulturell vielfältigen Welt. osmani- sche Musik baute auf der reichen Tradition per- sischer Musik und Poesie auf, und die kriegeri- schen eroberungen hatte viele persische Musi- ker an den Hof gebracht. Die Hofkapelle war aus Palastsklaven, wie ali ufki einer war, zusammengesetzt, die aus ganz europa stammten – und jeder brachte seine eigene musikalische Tradition und seine Melodien mit an den Hof. ali ufki beschreibt in seinen Memo- iren, dass z.B. italienische Musik zu hören war, da ein gefangener italie- nischer Chorleiter dort arbeitete: “Sie, die Türken, kennen auch italienische Musik: Sultan Murat hatte von Piraten einen sehr kompetenten italieni- schen Chorleiter als Sklave geschenkt bekommen, der viele schöne can- zonette und Stücke für Solo Stimme komponierte...” ali ufkis notizbuch, in dem er alles aufschrieb, was er lernte und hörte, erlaubt uns einen einzigartigen einblick in das vibrierende musikalische universum, in dem er lebte, so direkt und lebendig, als wären wir direkt vor ort. Seine eng beschriebenen Seiten sind voller gedichte und Lieder mit einer erstaunlichen Bandbreite von Musikstilen und Kulturen. osma- nische Musik wechselt mit persischen, italienischen, französischen und deutschen Kompositionen ab, traditionelle populäre Melodien stehen neben höfischen und geistlichen Liedern. Das Manuskript offenbart auch, wie sehr die italienische Sprache und Literatur ali ufki am Herzen lag, da er viele italienische Schriften und gedichte kopiert und sogar seine per- sönlichen notizen auf italienisch aufgeschrieben hat. Besonders fällt ins auge, dass er mehrere episoden aus „La gerusalemme liberata“ (Das befreite Jerusalem) kopiert hatte, einem epischen gedicht von Torquato Tasso, das von dem ersten Kreuzzug berichtet, in dem Jerusalem von sara- zenischer Herrschaft zurückerobert wurde. Das gedicht dreht sich um die gegensätzlichkeiten von ost und West, Islam und Christentum, und fasst damit die beiden Seiten von ali ufkis eigener kultureller Identität zusam- men, so dass es eine große persönliche Bedeutung für ihn gehabt haben muss. Das heutige Programmmöchte zeigen, wie variantenreich das Manuskript ist und mit welcher Leichtigkeit ali ufki zwischen den Kulturen und musi- kalischen genres wechselte. es vereint Musik der osmanischen und per- sischen Tradition mit Liedern aus der italienischen Renaissance, wie sie vermutlich vom italienischen Chorleiter des Sultans aufgeführt wurden. Zusammen ergeben sie eine variantenreiche erzählung “über den Krieg, das Leben und die Liebe, Leiden und die Distanz und andere ähnliche Dinge...” – Worte, die einst ali ufki selbst benutzte, als er die gedichte beschrieb, die im Serail gesungen wurden. Kiya Tabassian, Gesng, Setar & Leitung Foto: Michael Slobodian

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