Tage Alter Musik – Almanach 2024

Ob in der altehrwürdigen Schottenkirche schon einmal ein solch gewaltiges Schlagzeuggewitter zu hören war? Zu ihm gesellen sich alsbald die Töne barocker Oboen: das Ensemble „La Petite Écurie“ aus den Niederlanden hält mit Musik Jean-Baptiste Lullys effektvoll Einzug in das voll besetzte Gotteshaus. Auch imChorraum hat sich Publikum versammelt, wie Schlagwerker Philipp Lamprecht, der das folgende Konzert der „Tage Alter Musik“ moderiert, erstaunt feststellt: in solcher 360-Grad-Perspektive hätte die Gruppe noch nicht musiziert. Ein Instrument französischer Herkunft ist die Oboe, zusammen mit der tiefer klingenden „Taille“ durch das Fagott in Basslage ergänzt zur „Bande“ (französisch auszusprechen, um falsche Assoziationen zu vermeiden), die am Versailler Hof geschätzt wurde und sich bald auch im übrigen Europa verbreitete. Von Frankreich ausgehend unternimmt „La Petite Écurie“ in vierstimmiger Bläserbesetzung denn auch eine kleine Europareise mit Stationen in England, Italien und Deutschland und scheut nicht davor zurück, sich auch Kompositionen anzueignen, die im Original für andere Instrumente gedacht waren. Oft genug meint man, die Oboenstimmen ähnelten denen von Menschen, bei zartem Gesang ebenso wie dort, wo in polyphonen Allegrosätzen der Dialog der Instrumente erregter wird. Wie ein Kammermusikensemble wirken die vier Blasinstrumente hier, bei der Interpretation einer „Sonata“ von Boismortier oder eines eigentlich für Streicher komponierten „Concerto“ von Locatelli. Deftiger geht es oft zu, wenn das Schlagwerk bei Musik von Henry Purcell und Johann Christian Schieferdecker hinzutritt und Philipp Lamprecht – wie bei einer Jazz-Session – schon mal ein Solo improvisiert. Wobei neben kraftvollen Impulsen auch dynamisch fein abgestufte Effekte auf Trommelstöcken und mit Fingerzimbeln zu erleben sind. Vom Barockzeitalter aus geht es am frühen Sonntagnachmittag chronologisch weit zurück. Mittelalterliche Musik des 12. bis frühen 15. Jahrhunderts präsentiert das „Ensemble ApotropaïK“ in der Minoritenkirche. Musik, die fasziniert, gerade weil uns Hörer von heute eine Sprachbarriere von ihr trennt: Fremd bleiben ihre Klangfolgen, fremd ihre Kadenzwendungen. Und in historischer Distanz erscheinen uns auch die Frauengestalten, um die es in den vokalen Nummern des Programms geht (deren Texte man dankenswerterweise während des Vortrags in Original wie Übersetzung mitlesen kann). Oft sind es überaus zarte Töne, die das „Ensemble ApotropaïK“ formt, aber sie sind auch in den hinteren Publikumsreihen noch gut zu vernehmen. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt eindeutig Clémence Niclas mit ihrem eindringlichen Gesangsvortrag, von dem sie gelegentlich zu instrumentaler Ausführung der Melodie auf der Blockflöte wechselt. Die subtilen Töne von Fidel (Louise Bouedo-Mallet), gotischer Harfe (Marie-Domitille Murez) und Laute (Clément Stagnol) ordnen sich weitgehend unter, ja wirken bisweilen wie eine Gloriole, welche die Hauptstimme noch weiter zum Leuchten bringt. Die einzelnen Stücke, ob nun einstimmig überlieferte Gesänge aus Troubadour- und Trobairitz-Zeiten, ob einige der spanischen „Cantigas de Santa Maria“, ob elaborierte mehrstimmige Kunstwerke der Ars Nova von Guillaume Machaut, erhalten bei dieser Interpretation eine einheitliche Färbung und fügen sich zu einem fast nahtlosen, auch die tonale Basis fortführenden Gesamtablauf – als Zuhörer beginnt man, sich wie willenlos versinkend diesen archaischen Klängen zu überlassen. Tage Alter Musik Regensburg 2024 40 Schlagzeuggewitter, barocke Oboen und gotische Harfe Eine Europareise in die Barockzeit mit „La Petite Écurie“ und mittelalterliche Klänge von „ApotropaïK“ Autor: Gerhard Dietel // 21. Mai 2024 Bläser von La Petite Écurie: (v.l.n.r.) Miriam Jorde Hampanera (Oboe), Marc Bonastre Riu (Taille), Giovanni Battista Graziado (Fagott) Ensemble ApotropaïK: v.l.n.r. Marie-Domitille Murez (gotische Harfe), Louise BouedoMallet (Fidel), Clémence Niclas (Gesang), Clément Stagnol (mittelalterliche Laute)

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