Tage Alter Musik – Almanach 2018
Toccata 72 Das letzte Nachmittagskonzert der TAGE ALTER MUSIK bestritt das Ensemble Baro- que Atlantique in der Basilika Unserer Lie- ben Frau zur Alten Kapelle mit Instrumen- talwerken von Johann Sebastian Bach, und zwar als „imaginäres Konzert“. Hierfür wur- den – in bester barocker Manier – Werke Bachs transkribiert, z.B. für Violoncello und Cembalo oder für zwei Violinen. Werksvor- lagen waren BWV 1023, 1015, 1055, 12 und 530. ImOriginal erklangen die Konzerte für zwei Violinen, Streicher und Basso continuo BWV 1041 und 1043. Nur wer wagt, gewinnt! Und die acht jungen Musikerinnen und Musiker um ihren Grün- der und Leiter, den Violinisten Guillaume Rebinguet Sudre, wagten. Sie gingen an die Grenzen, allen voran ihr Solist und Leiter. Er reizte seine Kompositionsvorlagen wirklich bis zur Neige aus, balancierte ständig am spieltechnischen und interpretatorischen Abgrund. Das kann ins Auge gehen, so die beiden Aussetzer gleich zu Beginn des Kon- zerts im Präludium für 2 Violinen und Basso continuo d-moll nach der Sonate e-moll für Violine und Basso continuo BWV 1023. Das kann aber auch ins Auge gehen, wenn man mit Barockmusik bis zur Grenze der Ro- mantik geht – doch es ging hier extrem gut. Das war absolut tolerabel und extrem span- nend. Die Transkriptionen für Cello waren hier allerdings gewöhnungsbedürftig. Denn die Melodiestimme, einst in der Violine oder im Cembalo deutlich aufzufinden, klang jetzt im Register des Cellos, gefühlte Mittellage. Doch nach kurzer Gewöhnung waren die Li- nien dann gut auszumachen. Dennoch – mir fehlte hier dann doch die Oberstimme, der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Fabelhaft aber die beiden im Original vor- getragenen Konzerte. BWV 1043 geriet ge- radezu wollüstig schön. Insgesamt und ge- nerell waren die Tempi pulsierend, die Aus- führung überzeugend. Für mich war das eine wirkliche Herausforderung an die Inter- preten, selbst gestellt, sich ihr mutig gestellt, welche die Formation innovativ und erfolg- reich meisterte. Und dann kam das Abschlusskonzert in der Dreieinigkeitskirche mit Gabriela Eibenová und Lenka Cafourková (Sopran), Terry Wey (Altus), Virgil Hartinger (Tenor), Marián Krejčik (Bass), dem Ensemble Inégal und den Prague Baroque Soloists unter der Lei- tung von AdamViktora. Das Programmwar betitelt mit „Jan Dismas Zelenka – Psalmi Vespertini“. Die Chronik des Jesuitenordens und Briefe vom Januar 1726 aus Dresden berichten von einer Lutheranerin, die nach dem Kontakt mit Zelenkas Musik in der katholischen Hofkirche, von diesen Klängen völlig ver- zaubert, zum katholischen Glauben wech- selte – eine solche Ausdrucksstärke soll die Musik Zelenkas und die seiner Kollegen ge- habt haben. So stand es auch in der Pro- grammzeitung der TAGE ALTER MUSIK zu lesen und so entlockte es mir ein leises Schmunzeln. Eine nette Anekdote… amü- sante Werbung für die barocke Hof- und Kirchenmusik Zelenkas… dennoch… irgendwie ein Kleinmeister, oder? Dann setzten Chor und Orchester ein: Dixit Dominus ZWV 68! Punkt. Das war’s. Ein fulminanter Start, gefolgt von einem fulmi- nanten Konzert mit einem fulminanten Schluss. Instrumentalisten, die wie besessen agieren, Tempi, durchgehalten, forciert, exakt, die Chorsänger allesamt Profis mit dem Format eines Solisten, lupenreine Ko- loraturen, überhaupt – eine Lebendigkeit, eine Frische, eine Hingabe und technische Brillanz vokal und instrumental, wie ich es selten gehört habe. Es war nicht nur der absolute Höhe- und Schlusspunkt des diesjährigen Festivals. Es war mit eine der besten Leistungen, die in 35 Jahren TAGE ALTER MUSIK geboten wur- den. Ich darf das sagen, denn ich war von Anfang an dabei. Hier im diesjährigen Ab- schlusskonzert gab es nie und nirgends ei- nen Ansatzpunkt für Kritik, zu gut agierten die Solisten als solche, im Duett, Terzett, Quartett, zu gut agierte das Orchester, ging Tempi und Dynamik exakt und extremwen- dig mit, zu gut war dieser Chor, das glocken- reine, fast knabenhafte Timbre der Soprane, die Präsenz im Alt, die Leichtigkeit des Te- nors und die Schwärze der Bässe, die über staunenswertes Volumen und ebensolchen Stimmumfang verfügen. Verzaubert und gebannt lauschte also das Publikum in der evangelischen Dreieinig- keitskirche. Und plötzlich schienen Gedan- ken an den Eintritt in die katholische Kirche gar nicht mehr so weit hergeholt. Denn hier offenbarte sich nun ein Barockkomponist (und ich kann es kaum glauben), der 1726 (also mit 47 Jahren) Kompositionen vorlegt, die mehr an einen frühen Haydn oder an ei- nen Carl Philipp Emanuel Bach erinnern als an den Zeitgenossen Johann Sebastian, der 1726 u.a. seine Kreuzstab-Kantate schuf und 1748 mit seiner h-moll Messe noch immer innerhalb des Korsetts der Barockmusik komponierte. Dieses Umdenken, diese Neubewertung ist das Verdienst der Ausführenden und hier vor allem des Dirigenten AdamViktora, der mit kleinen Gesten eine überwältigend große Wirkung mit seinem Ensemble schuf. Ensemble Baroque Atlantique, Étienne Floutier, Violone und Guillaume Rebinguet Sudre am Cembalo in der Alten Kapelle
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