Tage Alter Musik – Almanach 2018

Toccata 71 Weg wird mir zu schwer“ der Motette „Komm, Jesu, komm“ BWV 229. Hier ver- blassten diese Einsätze relativ bald hinter der zu prägnant im Vordergrund agierenden Basslinie. Aber – das ist Klagen auf höchstem Niveau! Denn schlussendlich präsentierte sich das Ensemble wieder genauso geschlossen und ausbalanciert wie zu Anfang. Und mit dieser hier erneut und live gezeigten Qualität ha- ben sie sich sowieso vor nichts zu fürchten, am allerwenigsten vor Kritik. Das Nachtkonzert des Pfingstmontags be- stritten die Norweger. Barokksolistene wa- ren ebenfalls schon 2014 genau zu diesem Zeitpunkt aufgetreten und hatten einen ex- zellenten Eindruck hinterlassen. Die zehn- köpfige Truppe um den Barockviolinisten Bjarte Eike porträtierte den Orpheus Britan- nicus Henry Purcell mit und durch ein mit- und hinreißendes Konzert im Leeren Beutel. Der kleine Saal im ehemaligen Getreidespei- cher der Freien Reichsstadt, der Name leitet sich vom „Lare-den-Pautel“ (Getreidesack) ab, war alles andere als leer. Dicht gedrängt verfolgte das Publikum das von überborden- der Leichtigkeit und Fröhlichkeit geprägte Konzert. Alles wurde auswendig vorgetra- gen, die Musikerinnen und Musiker waren in ständiger Bewegung, verteilten sich im gesamten Raum, hatten Spaß und machten Spaß. Berit Norbakken Solsets Sopran war so überzeugend wie Per Buhres Counterte- nor. Dass der Mann auch noch exzellent Viola spielt, war ein weiterer Pluspunkt. Ste- ven Player tanzte sich die Seele aus dem Leib, sang, spielte Gitarre und lag im Wettstreit mit seinen Kolleginnen und Kollegen, denen allesamt der Schalk im Nacken saß – allen voran Bjarte Eike. Dieser führte hier und im anschließenden Konzert im Lokal des Lee- ren Beutel launig durch das völlig unbere- chenbare Programm. Purcell wurde hier derart lebendig, dass spätestens jetzt jedem im Saal klar geworden war, warum der Kom- ponist schon zu seinen Lebzeiten als legen- därer Orpheus bezeichnet wurde. Dann ging es gegenüber ins Lokal, das sich noch dichter gedrängt präsentierte. Nach Mitternacht luden nun die sieben Herren der Barokksolistene zur Alehouse Session. Die war locker und frech gespielt, ewig jung und derartig spannend, dass man die Zeit komplett vergaß: sowohl die Konzertdauer als auch die extrem vorgerückte Stunde. Das Konzertprogramm bestand nämlich aus Musik der englischen Tavernen im 17. Jahr- hundert, als Musik unter dem Lordprotektor Oliver Cromwell („Buhhh“!) in der Öffent- lichkeit, den Kirchen und den Herrenhäu- sern verboten war. Heimlich trafen sich die Musiker in den Kneipen, die Instrumente unter wallenden Umhängen verborgen – eine irre Zeit der „Musik-Prohibition“. Waren Barokksolistene schon im Saal zur Höchstform aufgelaufen, so steigerten sie sich nun im Lokal noch mehr. Helge Nor- bakken drummte sich die Seele aus dem Leib, Johannes Lundberg walkte mit dem Kontrabass, Per Buhre geigte mit Bjarte Eike um die Wette, Fredrik Bock ließ Andalusien mit seiner Gitarre auferstehen, Hans Knut Sveen hielt mit seinemHarmonium alles zu- sammen und behielt die Contenance und Steven Player erklärte dem Publikum die „Sieben Arten von Trunkenheit“, die schließlich das gesamte Ensemble ergriff und in eine „Zeitlupen-Schlägerei“ mündete – schon lange habe ich nicht mehr so herz- lich und befreit gelacht! Und dann war es halb drei Uhr morgens… Nach sehr kurzer Nacht startete der Pfingst- montag mit einer Matinee im Reichssaal des Alten Rathauses. Stylus Phantasticus und die Sopranistin Claire Lefilliâtre präsentierten unter der Leitung von Friederike Heumann „La carte de tendre oder Die Geographie der Gefühle“. Diese Landkarte wurde nun durch Kompositionen von Guederon, Waesich, Marini, Lejeune, Tessier u.a. koloriert. Sie schufenWerke des Air de cour, Liebeslieder, gesungen an Höfen oder in Salons von Paris, und das in der Epoche zwischen 1570 bis 1660. Claire Lefilliâtres Sopran zeichnet ein wun- derbar dunkles Timbre aus. Und das ist ge- nau die richtige Stimme für diese Komposi- tionsvorlagen, meist melancholisch und ver- halten, bisweilen durchaus spritzig. Barokksolistene im Leeren Beutel

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